Der 2020 Krisenblog
Sechsunddreißigster Tag
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- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 14:04
Heute habe ich Lust, mich zu beschweren, und wie das so ist, findet man dafür auch gleich einen Anlass:
Das von mir durchaus geliebte Burgtheater bietet Anregungen dafür, wie man zu Hause Theater machen kann. Zielgruppe sind offensichtlich Kinder. Ich zitiere einen Vorschlag:
„Alle verteilen sich stehend im Raum und überlegen sich eine Bewegung. Wer von Euch eine Idee hat, ruft z.B: „Lasst uns alle wie Frösche hüpfen“. Die anderen rufen begeistert: „Au ja!“ und beginnen sofort den Vorschlag in die Tat umzusetzen, so lange, bis jemand eine neue Idee hat und „Stopp" ruft. Alle bleiben wie eingefroren stehen und hören sich den neuen Vorschlag an. Das geht so lange weiter, bis Ihr keine Ideen mehr habt oder so außer Puste seid, dass Ihr nur noch am Rücken liegen wollt.“
Lasst uns?
Au ja?
außer Puste?
Ich hole etwas aus: Die Lektorin meines deutschen Verlags war sorgsam darauf bedacht, aus meinem Text alles zu eliminieren, was ihr wie ein Austriazismus vorkam. Möglicherweise zu Recht meinte sie, das könne man dem deutschen Lesepublikum nicht zumuten.
Vom Burgtheater erwarte ich eigentlich, dass es sich als zwar für den gesamten deutschen Sprachraum wichtige, aber doch letztlich Wiener Bühne versteht, und eine gewisse Sensibilität für Sprache meine ich doch voraussetzen zu können.
Die oben genannten Wendungen gehören jetzt nicht zu dem, was Kinder in Wien / Österreich als Alltagssprache vorfänden und ihnen vertraut wäre. Kein Grund also, sich ihnen damit anbiedern zu wollen. Finde ich. Es möge eine gewissenhafte Lektorin eingreifen, bitte!
Mein Tier des Tages ist ein Fisch. Seit längerem beobachte ich in einem Seitenarm des Marchfeldkanals Fische, die dort ihre Schleifen ziehen. Heute habe ich sie endlich deutlich genug gesehen, um zu erkennen, dass sie nicht nur eine schwarze Rückenflosse und eine schwarz geränderte Schwanzflosse haben, sondern auch rotorange Bauchflossen. Könnten das „Nasen“ sein? Das beiliegende Foto ist ja nicht von mir, sondern zeigt sicher eine "Nase". Die Expertise von Leopold Kanzler ist wieder gefragt …

Siebenunddreißigster Tag
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- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 14:09
Es sollte zu Ende gehen. Es hat sich alles normalisiert, einerseits. Das Home Office, die Videogespräche, meine täglichen Spaziergänge, selbst das Tagebuch Es macht sich diese Art alltäglicher Langeweile breit, der Reiz des Neuen ist vorbei.
Gleichzeitig ist es spannend. Es eröffnen sich neue Möglichkeiten, ich bin am Organisieren und Planen und Verhandeln. Das familiäre und das organisatorische WIR entfalten Dynamik. Die Welt ist sichtlich nicht wirklich stehen geblieben. Das ist nur ein oberflächlicher Eindruck. In Wahrheit dreht sie sich weiter, und nicht alles, was in ihr und auf ihr passiert, hat mit dem Virus zu tun und mit dem Shutdown. Es ist nur unsichtbar geworden, soweit es außerhalb des persönlichen Wirkungs- und Ereignishorizontes liegt. Es ist in den Nachrichten kaum aufzufinden, es fehlen selbst die Flugzeuge, die als Boten einer geschäftigen und vernetzten Welt über den Himmel ziehen. Was werden wir sehen, wenn nicht mehr der Kanzler täglich grüßt wie das berühmte Murmeltier? Was werden wir über die Weltereignisse erfahren, die jetzt im Schatten der Pandemie stehen?
Heute ist mir erstmals der Gedanke gekommen, dass mein Tagebuch bald ein Ende haben sollte oder könnte. Nicht gleich, aber bald.
Gestern nächtens, bei meinem Rundgang, schlappten zwei Frösche (oder Kröten? immer diese Ungewissheit) über den Gehsteig und verschwanden dann in einem Garten. Zu Hause sang die Nachtigall, ganz nahe.
Ein UFO ist gelandet.

Achtunddreißigster Tag
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- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 15:44
Heute hatte ich doch wirklich die Assoziation, dass meine Lage Aspekte von sensorischer Deprivation beinhaltet. Ja, ich weiß, ich liege nicht gefesselt in einem schalltoten verdunkelten Raum, aber meine Welt ist klein geworden. Das Haus, der Garten, und drei Rundwege, die ich täglich begehe. Ein Mini-Aktionsradius. Die Sensationen, die ich mir dort hole, sind einer gesteigerten Aufmerksamkeit für diese wohlbekannte Umgebung geschuldet. Ich achte auf die vielen Geräusche, die Tiere machen, betrachte Insekten, Vögel, Fische, Wasservögel und anderes Getier – und die Pflanzen. Die kleine Welt.
Ich überlege mir, wie das sein wird, wenn ich mich wieder weiter wegbewege. Werde ich Freude empfinden und staunen, wenn ich zum Beispiel wieder einmal den Hauptbahnhof sehe? Sollte ich nicht eine Exkursion zum Ring machen, in die Innenstadt, sie neu sehen? Neu nicht nur als nunmehr wenig frequentierte Gegenden, sondern neu auch dadurch, dass der Blick nach der Entwöhnung ein fremder sein könnte. Wie lange wird diese Fremdheit durchzuhalten sein? Länger als ein paar Minuten?
Jedenfalls freue ich mich auf die Möglichkeit des Staunens beim Anblick des sonst Gewöhnlichen.
Bis dahin staune ich über die Tulpen im Garten.

Neununddreißigster Tag
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- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 15:46
Es gibt Maikäfer heuer. Eine vage Erinnerung an ein katastrophales Maikäferjahr in meiner Kindheit, als sie in großer Zahl aufgetaucht waren, einige Wochen war damals meine Welt eine Maikäferwelt. Man konnte keinen Schritt tun, ohne ihnen zu begegnen, und wir sollten sie einsammeln. Jetzt landet einer neben meinem MacBook auf dem Tisch und ich werde nostalgisch. Ich betrachte ihn fast zärtlich.
Ich mache mich schlau. Von den 3 bis 4-jährigen Rhythmen wusste ich. So lange braucht die Metamorphose. Darüber gibt es allerdings, habe ich nun gelesen, einen 30 bis 40-jährigen Rhythmus, der wahrscheinlich so zustande kommt: Gibt es sehr viele Maikäfer, verbreiten sich Krankheiten und Parasiten epidemisch, was den Bestand radikal reduziert. Es braucht lange, bis sich der wieder erholt, und dann geht der Zyklus wieder von vorne los. Man könnte ihnen Abstandsregeln empfehlen, die moderne Version von Anstandsregeln. Oder sollte es eher doch nicht, sonst fressen sie den Bäumen das Laub von den Zweigen.
Überraschenderweise höre ich weniger Musik nun. Ich sitze nicht im Zug, nicht in der Straßenbahn, nicht im Wirtshaus mit dem Lärm vom Nebentisch. Ich nutze die Musik nicht mehr, um eine semipermeable Membran um mich zu legen. Ich sitze und schreibe im Uferwäldchen, und vor dem Ambient Soundtrack aus dem Summen der Zuchtbienen. aber auch der Wildbienen und Hummeln, dem Vogelgezwitscher und dem Rauschen der Fahrradreifen am gegenüberliegenden Uferweg muss und will ich mich nicht schützen.
Wenn ich Musik höre, höre ich nun allerdings genauer hin. Zum Beispiel bei Lucinda Williams, in die ich seit langem verliebt bin und die gerade ein großartiges neues Album herausgebracht hat. Hier aber ihr aktueller „In My Room“-Auftritt, unplugged, ohne ihre formidable Band.
Vierzigster Tag
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- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 15:53
Neulich wurde der Bundeskanzler gerügt, weil er stets die „Österreicherinnen und Österreicher“ anspricht. Wer ist damit wohl gemeint? Einige Wienerinnen und Wiener, die keine österreichischen Staatsbürger sind, meinten jedenfalls, sie seien nicht angesprochen.
Das wirft einige Fragen auf. Spricht er mit dieser Wendung nur das „Staatsvolk“ an, also Leute mit „richtiger“ Staatsbürgerschaft, oder die Bevölkerung – das wären dann alle 8,9 Millionen, die hier ansässig sind? Wie müsste man die adressieren, ohne dass man sich damit neue Probleme einhandelt?
„Häufig merkt die Mitte der Gesellschaft gar nicht, was ihr Sprachgebrauch aussagt, wie sehr Worte ausgrenzen können. Wenn Volker Bouffier am Abend von Hanau (…) vor einem Fernsehpublikum sagt, diese Deutschen mit Migrationshintergrund «gehörten zu uns», dann meint er zweifelsfrei das Richtige, nimmt aber gleichzeitig eine Ausgrenzung vor. Deutsche mit Migrationshintergrund oder mit einer Religion, die nicht eine christliche ist, sind also nicht automatisch Teil dieses «uns». Dabei wäre es doch diese Gemeinschaft eines «Wir», um die es in einer liberal-demokratischen Gesellschaft gehen sollte.“ meint Richard C. Schneider in der NZZ vom 21.04.2020.
Genau. Ich unterstelle jetzt einmal, dass „Österreicherinnen und Österreicher“ die gesamte Bevölkerung meint. Alles andere wäre in der Sache auch wenig zweckdienlich.
Obwohl: Eines der größeren Probleme unserer Demokratie ist, dass die gewählten Politikerinnen und Politiker eben nur das Staatsvolk vertreten, von dem sie gewählt sind, und ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in den politischen Institutionen nicht repräsentiert ist. Aber das geht über die Frage der Anrede doch hinaus.
Angemerkt sei noch, dass mir zu den Zeiten, als ich noch Pressekonferenzen verfolgte, auffiel, dass der Kanzler konsequent gendert. Immerhin.
Die Zwischenzeit hat mich veranlasst, nahezu in einer Panik mein unfertiges, aber doch schon relativ weit gediehenes Romanprojekt im Eigenverlag zu veröffentlichen. Erhältlich im Buchhandel, online und analog.



