Der 2020 Krisenblog

Siebzehnter Tag

In diesen Tagen könnte es sein, dass Diskrepanzen zwischen den eigenen Vorstellungen von Selbstsorge und der Sorge der Familienmitglieder um mich auftreten. Das hat schon Loriot erkannt.
Der Herr Sohn hat in diesem Video zwar einige Muster unserer Kommunikation mit ihm wiedererkannt, meint aber, dass wir die Quarantäne bisher sehr gut hinbekommen. Er freut sich schon auf die Schule und verspricht, sich nach deren Wiedereröffnung ein bis zwei Wochen nicht über sie zu beschweren. Das ist ein ziemlich großes Versprechen. Er habe kurz darüber nachgedacht zu sagen, er werde das „nie wieder“ tun, das sei ihm dann aber doch zu unerreichbar vorgekommen.
Ich lese in der „Bühne“ über die neuen Inszenierungen an Wiens Theatern – und je weniger dies möglich ist umso mehr möchte ich fast alle sehen. Das Gefühl, etwas zu versäumen. Eigentlich ein ganz normales Gefühl in der Stadt. Was man versäumt, überwiegt das, was man nicht versäumt, bei weitem, auch und gerade in normalen Zeiten. Damit konnte ich mich bis heute nicht abfinden. Es gelingt mir nicht, mit dem Faktum der begrenzten Zeit und der Unmöglichkeit, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, Frieden zu schließen. Jetzt nimmt mir zwar diese Krise die Entscheidung ab, was ich mir (nicht) anschaue, aber befriedigend ist das auch nicht. Ich bin in der Großstadt, und bin in der Situation von Menschen in den Wäldern der peripheren Landschaften.
13.000 Schritte heute, und ich warte immer noch auf die Entschleunigung. Ich habe gelesen: „Bis vor Kurzem haben wir unter kollektiver Zeitnot gelitten, jeder war im Stress, hatte tausend Dinge zu erledigen und schob eine ganze Halde an Unerledigtem vor sich her.“ Ach, das ging nicht nur mir so? Die Formulierung mit der Halde gefällt mir besonders. Dass im nächsten Satz behauptet wird, nun habe sich alles umgekehrt und die Langeweile mache sich breit, zeigt aber: Jetzt scheine ich zur Minderheit zu gehören. Oder doch nicht?
Schönen Abend noch!
tag017.png

Achtzehnter Tag

Ich mache mir Sorgen um die Zeitungen. Sie werden immer dünner, und nicht nur, weil die Anzeigen ausbleiben. Auch der redaktionelle Teil schrumpft, und im verschrumpelten Rest geht es fast ausschließlich um die Krise. Ich bin ein notorischer Zeitungsleser. Das einzige Blatt, das mich nun schon seit 50 Jahren begleitet, ist die Neue Zürcher Zeitung. Als ich noch ein Gymnasiast war, hat der Ober meines Stammcafés (das Fichtl in Floridsdorf, inzwischen leider verblichen) sie gesammelt und mir am Wochenende übergeben. Zu Hause ackerte ich sie dann durch und lernte viel, sehr viel über die Welt. Analytische Berichte über die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse in fernen Ländern waren nur dort zu finden — die österreichischen Blätter waren da zu vergessen.
Als Kind habe ich mit der Arbeiterzeitung das Lesen gelernt. Das Neue Österreich habe ich Sonntags aus den Hängetaschen gestohlen. Später kamen Die Presse und die Volksstimme als Lektüre dazu. Österreichische Zeitungen zu lesen wurde allerdings immer uninteressanter, in allen standen die gleichen von der APA bereitgestellten Einheitsartikel. Das größte Elend ist die Sportberichterstattung hierzulande. Sportredaktionen scheint es keine mehr zu geben, zu den Matches der Fußballliga gibt es immer nur eine Meinung — die der APA.
Trotzdem — wenn jetzt auch das an Schwindsucht leidet, dann ist wirklich Krise. Meine NZZ ist mager, in der von mir geschätzten Wiener Zeitung finden sich immer noch gute und interessante Beiträge, aber eben auch weniger als vorhin.
Ich wünsche mir, dass meine Zeitungen bald wieder dicker werden, ihre Berichte vielfältiger. Ich will die Krise nicht schon beim Frühstück spüren, wenn ich die Blätter zur Hand nehme und das Mitleid aufkommt. Zum English Breakfast Tea gehört als Beilage ein ordentlicher Packen Papier.
Ruth Wodak konstatiert anhand vereinzelter rot-weiß-roter Fähnchen an den Fenstern und dem „I Am from Austria“-Hype, der eh schon wieder vorbei ist, ein Aufkommen des „banalen Nationalismus“. Da bin ich mir nicht so sicher, und ich würde auch deutlicher zwischen Patriotismus und Nationalismus unterscheiden (dazu morgen mehr). Eher beunruhigend ist tatsächlich, dass die EU und die europäische oder gar die weltweite Solidarität jetzt gerade keine Hochkonjunktur haben. Der Blick verengt sich. Man sollte aber auch wissen, dass die Union in der Gesundheitspolitik keine Kompetenzen hat, ihre Unsichtbarkeit also wohlbegründet ist.
Die TAZ hat ein Vermummungsgebot vorgeschlagen, und das scheint auch sinnvoll zu sein, zumindest in geschlossenen Räumen, wie es die Regierung jetzt ja auch für die Supermärkte verordnet hat. Im Freien, vor allem in der freien Natur, sei es sinnlos, hat der Virologe Alexander Kekulé gesagt. Dafür bin ich ihm dankbar, bei meinen Wanderungen spüre ich gerne den Wind im Gesicht, den es hier in Floridsdorf ja fast immer gibt. Nur heute nicht.
Der Wiener Beschwerdechor hat schon 2017 einen Song „Haltet Abstand“ aufgenommen. Damals allerdings hatten sie einen anderen Anlass für diese Bitte, oder war´s eine Forderung? Hört selbst!
tag018.png

Der 2020 Krisenblog

Seit dem zweiten Tag des Lockdowns führe ich auf Facebook ein Tagebuch mit Überlegungen nicht nur zur Coronakrise. Für all jene, die nicht bei Facebook sind, gibt es die Beiträge nun auch auf der Website, allerdings ohne die Kommentare, die von den Facebook-Friends beigesteuert wurden. Viel Vergnügen, und Ohren steif halten!

--> Hier geht´s zum PPE 2020 Krisenblog 

Neunzehnter Tag

Weil´s grad so um die vermeintliche Wiedergeburt der Staaten geht und darum, dass die EU im Hintergrund bleibt. Es geht ja im Alltag meist vergessen, aber Staaten bestehen aus einem Territorium (dem Staatsgebiet), der Staatsgewalt (Militär, Polizei, Justiz, Regierung etc.) und dem Staatsvolk. Auch wenn die Grenzen des Staatsgebiets im Schengenraum lange nahezu unsichtbar gewesen sein mögen, ändert es nichts daran, dass die Macht, etwas durchzusetzen, nötigenfalls auch gegen Widerstand, ausschließlich bei den Staaten liegt. Die Europäische Union ist eben ein Staatenbund und kein Staat. Sie hat keine eigene Exekutivmacht, kein Heer, keine Polizei, keine Gefängnisse, und eine zwar wichtige Justiz mit dem Europäischen Gerichtshof, die aber weit oben schwebt und nur sehr mittelbar in die Rechtsverhältnisse des Alltags eingreifen kann.

Worüber man sich wundern kann: Dass man in den Zeiten, als alles so seinen gewohnten Lauf nahm, ernsthaft glauben konnte, die Bedeutung der Staaten sei im Verschwinden. Nun muss man zur Kenntnis nehmen, dass dem nicht so ist, und dass die Staaten das tun, wofür sie da sind, nämlich sich um sich selbst und ihre Bevölkerung zu kümmern.

By the way: Ja, die Union als europäischer Bundesstaat wäre mir lieber, aber das spielt es halt nicht. Nicht nur wegen der Egoismen der Mitgliedsstaaten, sondern auch, weil der wirtschaftliche Entwicklungsstand und damit auch die Löhne, das Sozialwesen etc. dermaßen unterschiedlich sind. Im Vergleich dazu sind die USA ein Staat mit nur sehr geringen Unterschieden zwischen ihren Gliedstaaten.

Bleibt zu hoffen, dass die Union nicht schwächer wird in diesem Jahr. In dieser neuen Weltordnung wäre das keine gute Nachricht.

Von der angekündigten Wertschätzung der pflegenden und sozialen Berufe ist wohl wenig zu erwarten. So vermessen die Forderungen der Gewerkschaft bei den Kollektivvertragsverhandlungen der Sozialwirtschaft waren, so bescheiden ist das Ergebnis. Die Fallhöhe ist riesig. So wird es nix mit der „neuen Wertschätzung“ und den sich angeblich verändernden Prioritäten.

Mein Haar wächst, langsam aber sicher. Ob die Beschränkungen so lange dauern werden, dass ich am Ende aussehe wie mit 17 Jahren? Ich bin der Vordere auf dem Bild.

club.jpeg

Zwanzigster Tag

Es ist die große Kunst unserer nördlichen Nachbarn, die Sprache durch die Konzentration auf einige wenige Allzweckwörter zu vereinfachen. Weltbekannt ist ihr gelungener Versuch, durch „lecker“ alle Wörter über Geschmacksqualitäten zu ersetzen und durch „laufen“ sämtliche anderen Verben, die verschiedene Arten und Geschwindigkeiten der Fortbewegung zu Fuß bezeichnen. Ein weiteres Powerwort ist die Präposition „an“. Noch nicht ganz so erfolgreich wie „lecker“, aber immerhin: Gewalt wird nicht mehr gegen Personen ausgeübt, sondern „an“ Frauen, Kindern etcetera. Damit werden jene sprachlich gleich noch einmal zu Objekten gemacht. Nun eine Überschrift in der FAZ: „Was ist an Ostern erlaubt?“. Nur mehr wenig. „Gegen“ und „zu“ jedenfalls nicht mehr.

In einer Erzählung des SF-Autors Ted Chiang haben Wissenschafter einen Weg gefunden, um die Fähigkeit des Hirns, zwischen schönen und weniger schönen, ja hässlichen Gesichtern zu unterscheiden, auszuschalten. Nennt sich dort „Callignosie“. Studentische Aktivistinnen und Aktivisten sehen darin die große Chance, eine der Quellen von Diskriminierung trockenzulegen. Sie wollen die „Calli“ an der Uni verpflichtend machen und so einen Sieg gegen den Lookism erringen, also die Ungleichbehandlung aufgrund des Aussehens. Die Wissenschafter in dieser Geschichte meinen, Rassismus könne man „technisch“ leider nicht ausschalten. Da müsse man schon weiterhin auf Erziehung zählen.

Wie man sieht, geht es einfacher, den Lookism zu bekämpfen. Ein Stück Stoff genügt. Burkazwang wäre in Zukunft auch ein Mittel.

Christina hat das Maskentragen bereits vor Monaten in Berlin geübt.

IMG_5130.jpeg