Der 2020 Krisenblog

Achtundvierzigster Tag

Irgendwann vor Wochen meinte ich, dass ich beim ersten Rapid-Heimmatch vor Publikum unbedingt dabei sein wolle. Das gilt immer noch, obwohl immer unklarer wird, wann das sein könnte und was der Shutdown mit dem Profifußballgeschäft anstellen wird. Die zahlreichen Ergebnisse und Spielberichte aus der ganzen Welt haben immer ein Gefühl der ständigen Bewegung in einem wohlgeordneten Rahmen verbreitet. Auch wenn man diesen Rahmen kritisieren konnte, so war es doch einer und sorgte noch dazu für Gewusel und kontrollierte Freude, kontrolliertes Entsetzen. Solange es das nicht wieder gibt, ist Ausnahmezustand.
Für andere endete der Ausnahmezustand heute, zumal die Einkaufszentren wieder zugänglich waren. Ich gebe zu, dass mich das wenig bewegte und mich auch zu keinem Ausflug animierte. Gegenüber den Prophezeiungen mancher, dass in dieser Krise die Menschen erkennen würden, was sie alles nicht benötigten, und dass das der Anfang vom Ende des sogenannten Konsumwahns sein könnte, bleibe ich jedoch skeptisch.
Sorgen machen mir die Klagen von Geschäftsleuten über einen ausufernden Bürokratismus bei der Bewilligung von Unterstützungen, zu deren Auszahlung es erst viele Wochen später kommen werde – bye bye Liquidität, der Konkurs lässt grüßen. Nicht dass mich das wundert. Bisher kenne ich das von der Sozialhilfe: Der Liquiditätsbedarf der Ärmsten war allzu oft kein Anlass für die zügige Bereitstellung des Lebensbedarfs, trotz Rechtsanspruch.
Fröhlich stimmt mich, dass der Nasen-Mund-Schutz manchen zum Modeartikel wird, zu einem billigen Distinktionsmerkmal. In Wien Heute (ORF) präsentierten sich Jugendliche stolz in schwarz. Zu befürchten ist allerdings, dass es bald Rolex-Masken geben wird für die neureichen Krisengewinnler und BMW-Masken für halbseidene junge Männer mit fragwürdigen Zukunftsaussichten.
Hat der Erste Mai gestern gelebt? Weiß jemand etwas davon?
Ich bin jedenfalls am Friedhof vorbeimarschiert.
 
2025-11-23 um 20.16.20

Neunundvierzigster Tag

Bisher hatte ich keine Angst. Jetzt melden sich im Hintergrund einige Befürchtungen. Dass zu viele Menschen die Sache nicht mehr ernst nehmen. Dass alle entsetzt sein werden, wenn noch eine zweite Welle kommen sollte. Dass es dann wieder die Wahl gibt, ob man sich streng an die Vorsorgeregeln hält und so der Wirtschaft eine zweite Delle verpasst, oder alternativ die Bereitschaft nicht mehr da sein wird, die Delle dann ebenfalls kommt, nur mit einer größeren Zahl an Todesfällen.
Manches verwundert mich sehr, und macht mich auch nicht ruhiger: Eine sonst geschätzte Kollegin, die die Vorsorgeregeln angeblich an eine Militärdiktatur erinnern; ein sonst geschätzter Kollege, der sich über eine angebliche Wissenschaftsgläubigkeit beschwert.
Was ist das, Wissenschaftsgläubigkeit? Was wäre das Gegenteil davon, was das Wünschenswerte? Wissenschaft ringt um ein Verstehen der Welt anhand von Fakten. Wissenschaft ist der kritische Umgang mit dem, was man glaubt, die Suche nach Evidenz. Die Wissenschaft ist, solange sie diesen Namen verdient, kein Dogmengebäude, sondern eine globale Bemühung, sich voranzutasten bei der Erkenntnis der Welt. Wissenschaft ist der Streit um die Erkenntnis. Was könnte die Alternative zu „Wissenschaftsgläubigkeit“ sein? Dass jede beliebige „Meinung“ gleich viel zählt? Ich versteh´s nicht, sorry.
Die Zukunft ist weiterhin unklar, und die Regierungen scheinen fest entschlossen, in die alten Geschäftsmodelle wie zum Beispiel die deutsche Autoindustrie und die Fluggesellschaften Milliarden zu stecken, während die Klein- und Mittelbetriebe bürokratisch gepiesackt werden und in Österreich eine höchst antiquierte Gewerbeordnung immer noch in Kraft ist und Eigeninitiative behindert.
Kleingeisterei, Neid, Verschwörungstheorien scheinen fröhliche Urständ zu feiern. Die Hoffnung auf Vernunft und einen Neubeginn verflüchtigt sich.
Das macht mir Angst.
Die Bäume sind verblüht, das Grün breitet sich aus. Wir werden in einer grünen Welt leben in den nächsten Monaten. In einer blättergrünen.
 
2025-11-23 um 20.21.21

Fünfzigster Tag

Heute beschränke ich mich darauf, einen Link zu schicken. Die Organisationsberatung promitto hat mir Fragen gestellt, ich habe sie beantwortet. Have a look.

2025-11-23 um 20.26.02

Einundfünfzigster Tag

An einem Tag, an dem ich mich mit der Beantwortung von Fragen herumschlage, die Gutachterinnen und Gutachter stellen, ist es schwierig auszusteigen. Trotzdem ein kleiner Sidestep zur Auflockerung:
Beim Morgenspaziergang, einem Interview mit einem Wissenschafter lauschend, der sich mit Verschwörungstheorien beschäftigt, überlege ich mir, wie dumm man sein darf. Darf man überhaupt dumm sein? Gibt es einen Unterschied zwischen entschuldbarer passiver Dummheit und moralisch verwerflicher aggressiver Dummheit? Was unterscheidet Dummheit von krankheitswertigen Störungen? Wie kommt es, dass offensichtlich auch gebildete Menschen sehr dumme Statements von sich geben können, ja manchmal sogar verbissen verteidigen? Hilft also Bildung gar nicht wirklich? Sind diese meine Fragen dumm? Oder welche Dummheiten habe ich sonst schon von mir gegeben? Waren die entschuldbar? Schadeten sie nur meinem Ansehen und hatten sie sonst keine schlimmen Folgen?
Darauf gibt es heute keine Antworten. Und sollte es auch morgen keine Antworten darauf geben, dann werde ich mir überlegen müssen, ob Dummheit die richtige Bezeichnung ist. Oder ob es nur ein bequemes Wort ist, das mir hilft, etwas zu verkraften, was mir als blühender Unsinn und als bedrohlich erscheint. Vielleicht wurde das Wort Dummheit gerade dafür erfunden: Damit man manches verkraften kann, sich Ruhe verschaffen kann vor gefährlichen Zumutungen. Damit man das Thema wechseln kann.
Manches sieht man nicht genau, weil so viel Staub aufgewirbelt wird. Was man hier nicht sieht, ist ein Traktor.
 
2025-11-23 um 20.30.07

Zweiundfünfzigster Tag

Es ist sehr angenehm, gelobt zu werden, manchmal auch ein bisserl peinlich. Johanna Hefel hat mich heute bei der Generalversammlung der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit aus dem Vorstand verabschiedet, und zwar so, dass bei mir etwas wie Rührung aufkam. Das Lob, das ich am besten annehmen konnte, war jenes, dass ich nach dem Wechsel im Präsidium meiner Nachfolgerin nie zu sagen versucht hätte, was sie tun soll. Ich wünsch der ogsa jedenfalls ein weiterhin gutes Gedeihen!
So ein Puzzle schaut schon sehr chaotisch aus am Anfang. Dabei ist es ein ziemlich primitives Rätsel. Jedes Teilchen hat genau einen richtigen Platz, eine völlig klar definierte Beziehung zu den anderen Teilchen. Das Puzzle zusammenzusetzen kann zwar langwierig sein, man kann zwischendurch der Verzweiflung nahe sein, dauerhaft irren kann man jedoch nicht. Fehler werden vielleicht nicht sofort, aber doch recht bald deutlich, sie zeigen sich selbst an. Man benötigt Geduld. Es ist ein sehr einfaches, zweidimensionales Rätsel, auch wenn es das durch das anfängliche dekorative Chaos zu verbergen sucht.
Ich bin kein Puzzle-Freund.
 
2025-11-23 um 20.33.33