Der 2020 Krisenblog
Einundvierzigster Tag
- Details
- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 15:56
Eine seltsame Koalition scheint sich zu bilden dieser Tage. Da sind die extremen Rechten, für
die der Staat sowieso das Feindbild ist und die am liebsten selbst mit der Waffe in der Hand Ordnung machen würden. Da sind die Verschwörungstheoretiker*innen, für die Bill Gates und/oder die Pharmaindustrie und/oder der internationale Kapitalismus die Pandemie selbst oder die angeblich unbegründete Furcht vor ihr angeheizt hätten, um so ihre finsteren Ziele verfolgen zu können. Da sind intellektuelle Linke, zum Beispiel jene, die wieder einmal Foucault ausgraben, den sie so gelesen haben, als lieferte er nur die Beschreibung einer ausweglos sinistren Welt der totalen Herrschaft, aus der es kein Entrinnen gibt. Da sind die radikalen Linken, die faschistische Herrschaft herandämmern sehen. Da sind jene Liberalen, die meinen, es solle sich alles besser selbst regeln, wie ein idealer Markt, und staatliche Regeln führten direkt zur Unmündigkeit und zu einem pandemiegeborenen sozialistischen Zwangsstaat. All jene empören sich und warnen vor finsteren Zeiten der Despotie oder sehen diese schon gekommen. Mir scheinen die Alternativen, die sie anzubieten haben, aber noch finsterer zu sein, muss ich gestehen.
Ich wurde darauf hingewiesen, dass die Formulierung „Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle die hier leben“, wie sie vom Bundespräsidenten verwendet wird, die bessere sei als die einfache Adressierung der Österreicher*innen, wie sie der Kanzler verwendet. Das mag sein, aber es ist auch ungerecht, Nachwuchspolitiker an den Besten zu messen.
Auf meinem Tisch sind Pappelsamen gelandet. Befruchtend.

Zweiundvierzigster Tag
- Details
- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 15:59
Es wird die ersten Lockerungen des Pandemie-Regimes geben. Das scheint jetzt angemessen und ist auch gut so. Trotzdem macht mich die Heftigkeit, mit der manche diese Lockerungen fordern, skeptisch. Mein Verdacht ist, dass es ihnen vor allem darum geht, dass möglichst schnell eine „Normalität“ hergestellt werden soll, die derjenigen vor der Pandemie auf´s Haar gleicht. Sie haben Angst vor jeder noch so kleinen Veränderung, und eines ist schon klar: je länger die Beschränkungen andauern, umso mehr wird sich die Normalität danach von der Normalität davor unterscheiden.
Bevor man wieder „hochfährt“, sollte wohl über einiges im Betrieb diskutiert werden:
• muss man auch in Zukunft Home Office wie einen Gnadenakt gegenüber den Bediensteten genehmigen, muss man das mitschwingende Misstrauen aufrecht erhalten, oder wäre es nicht an der Zeit zu überlegen, ob Home Office ein mit den Mitarbeiterinnen verhandelter normaler Bestandteil vieler Arbeitsverhältnisse sein kann?
• Wäre es nicht sinnvoll, generell den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Betrieb, in der Schule, der Hochschule mehr Vertrauen entgegenzubringen? Die Schulen weniger zentralistisch zu regeln versuchen, sie dafür besser mit moderner Technik, mit Autonomie bei der Personalauswahl und beim Mitteleinsatz und mit nicht-lehrendem Personal auszustatten?
• Wie wollen wir uns in Zukunft im Betrieb und darüber hinaus organisieren? Was ist alles gut gelungen in diesen Wochen und was haben wir dabei gelernt?
• Könnten vielleicht gerade jetzt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Planung für die Zukunft einbezogen werden?
Und vieles mehr …
Wär eine gute Gelegenheit, um an der Zukunft zu bauen, vor allem dort, wo sie erwartbar anders wird aussehen müssen. Wer diese Gelegenheit vorbeigehen lässt, wird sich nur schwer danach zurechtfinden.
Aber vielleicht bin ich zu blauäugig. Vielleicht ist das Beste, was nun kommen kann, eine Schrumpfform dessen, was davor war, auch in der Arbeitswelt.
Zum Wochenend-Abschluss ein Blick auf Blüten, vor den nächsten Zoom-Meetings ...

Dreiundvierzigster Tag
- Details
- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 16:02
Ich führe seit ca. 10 Jahren Buch über all meine Arbeiten: Was mache ich wo von wann bis wann? Es hilft mir, einen Überblick zu bewahren. Neuerdings änderte sich vor allem das „wo“. Seit Beginn der Pandemie-Einschränkungen steht hier bei allen Arbeiten das Kürzel für zu Hause, und das entspricht der Realität, wenn man darunter versteht, wo sich während der Tätigkeit mein Körper befindet. Ist das aber auch der Ort der Tätigkeit? Ich ertappte mich immer öfter dabei, dass ich z.B. statt zu Hause „Zoom“ eintragen wollte. Ich sitze bei Besprechungen zwar zu Hause, wie die anderen auch, aber die Tätigkeit findet im Zwischenraum statt, im Zoom-Raum. In einem Raum der Kommunikation, der eben nicht mein Hausbüro ist. Ich könnte auch ganz wo anders sitzen, es machte keinen Unterschied. Und ganz zu Hause ist man bei solchen Meetings ja nicht wirklich.
Bisher konnte ich es noch vermeiden, eine Maske aufsetzen zu müssen, es wird mir aber nicht erspart bleiben. Ich hoffe darauf, dass die Gesichtsvisiere als Maskenäquivalent freigegeben werden. Ich verberge mich nicht gerne, und ich sehe andere Menschen gerne. Auch für die Sozialarbeit wäre es sehr hilfreich, den Klientinnen und Klienten unvermummt begegnen zu können.
Wir sind Menschen begegnet, die auf die Bitte, den Abstand einzuhalten, höhnisch antworteten „naja, wenn Sie daran glauben“. Sie hielten uns anscheinend für bescheuert, so wie manche Kommentatoren, die die relativ gute Disziplin der Bevölkerung als bedenkliche Bereitschaft zur Unterwerfung interpretieren. Echte Freigeister und die wahren Vertreter*innen des Erbes der Aufklärung scheinen sich dadurch auszuzeichnen, dass sie sich gerade jetzt in pubertärer Aufmüpfigkeit üben. Ist etwas ermüdend.
Die Enten sind heute etwas unruhig – sie jagen einander übers Wasser, und ich wüsste gerne, worüber sie streiten.
Schattenspiele in der Semmelweisgasse.

Vierundvierzigster Tag
- Details
- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 16:05
An manchen Tagen möchte ich all meine Zeit mit Klagen verbringen, weil nichts zu passen scheint und die ganze Welt Heimtücken bereithält, schlicht unvollkommen ist:
Bei Hörbüchern kann man inspirierende Sätze nicht unterstreichen, man kann den Seiten keine Eselsohren machen, dafür kann man Printausgaben nicht beim Wandern lesen.
Eine Firma kassiert 800 Euro, um vier Wochen später mitzuteilen, dass der bestellte und bezahlte Artikel nicht lieferbar sei. Das gleichzeitig bestellte, nun nutzlose, Zubehör lassen sie zustellen und man muss es auf eigene Kosten zurückschicken. Wenn man sein Geld zurückverlangt, finden sie allen Ernstes, man sei unhöflich.
Die Funktionsbeschreibungen von Software werden offensichtlich von Marketingabteilungen verfasst, so wolkig und unpräzise sind sie. Um zu erkennen, was das Programm kann und vor allem, was es nicht kann, verplempert man Stunden, um dann zu erkennen, dass man es nicht brauchen kann. Mit einiger Sicherheit wird mir in vier Monaten jemand erklären, dass ich es nur falsch angelegt hätte und das Programm eh das richtige gewesen wäre. Und er wird recht haben. Darüber ärgere ich mich jetzt schon.
Und dann schaue ich am Abend Casablanca mit der richtigen Frau seit 16 Jahren, und spätestens bei der Flughafenszene ist die Welt völlig in Ordnung und es gibt nichts zu klagen.
As Time Goes By – nachher noch einmal in der Version von Bryan Ferry angehört. Die Nacht kann kommen.
Fünfundvierziger bis siebenundvierzigster Tag
- Details
- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 19:14
Das war jetzt eine Unterbrechung. Zwei Tage ohne Tagebucheintrag. Wegen Müdigkeit, wegen der vollen Abende mit gemeinsamem Filmschauen und mit Einschlafassistenzleistungen.
Unterbrechungen, Pausen sind interessante und hochwirksame Interventionen. Sie sind nicht einfach nichts, sondern betonen das, was vorher war, lassen es nachhallen, und geben Raum für Kommendes, möglicherweise Bedeutungsvolles. Ich erinnere mich an Rollenspiele mit Studierenden, in denen wir Gesprächsführung übten. Eine der ersten Dinge, auf die ich sie zu trainieren versuchte, war, Pausen und Stille auszuhalten. Nicht gleich etwas zu sagen, sondern das Gesagte einmal nachklingen zu lassen. Es geschieht so viel in der Stille, und schon einige Sekunden Stille im Gespräch können viele Räume öffnen. Der Stress, etwas sagen zu müssen, wird gelindert, es gibt Zeit, um Nachzudenken, Entscheidungen vorzubereiten, in sich hineinzuhorchen. Die Pause eröffnet Möglichkeiten für den weiteren Verlauf des Gesprächs, die vorher so noch nicht vorhanden waren.
Ich bin immer wieder verwundert über Menschen, die pausenlos sprechen. Ich begegne ihnen zum Glück nicht in meinem nächsten Umfeld, aber manchmal doch zum Beispiel in Lokalen: Eine Runde an einem der Nachbartische, aber man hört nur eine einzige Person reden, und sie hört nicht auf, gibt den anderen keine Chance, sich ebenso einzubringen. Alle anderen sind leiser, sie scheinen nur die Stichwortgeber zu sein. Noch mehr verwundert mich aber, dass sich das die anderen gefallen lassen. Ich stelle mir vor, dass sie mit ihren Gedanken ganz wo anders sind, eigentlich nur physisch in dieser Runde sitzen, in Wahrheit allein. In eine Isolation getrieben vom Dauerredner. Ja, die männliche Form ist schon angebracht, nur sehr selten sind es Frauen, die die anderen so in eine Isolation treiben.
Die – wie ich vermute – innerlich einsamsten Menschen sind dabei die lautesten. Sie beschallen nicht nur die Runde, die an ihrem Tisch sitzt, sondern raumgreifend gleich die Nachbartische mit, als müssten sie sich von Berggipfel zu Berggipfel verständlich machen.
Aber jetzt, solange Gastronomiebetriebe noch geschlossen sind, haben sie dieses Betätigungsfeld nicht. Ich vermute allerdings, dass sie Kommunikationstechnologien nutzen, so sie denn Menschen haben, die ihnen als Abnehmerinnen oder Abnehmer dafür zur Verfügung stehen. Ich könnte sie bedauern. Oder jene, die die Beschallung ertragen müssen.
Ich überlege mir, dass man Respekt eventuell doch messen könnte: Respektvolle Kommunikation wird wohl auch eine einigermaßen gleiche Aufteilung der Sprechzeit erfordern, und eine gegenseitige Anpassung der Sprechlautstärke.
Heute Vormittag eine Duftorgie: die über Nacht befeuchtete Erde, der Flieder, die vielen anderen Blüher, und der Grundton aus Gras und jungen Blättern. Wie eine Kollegin bemerkte: So intensiv habe sie (und habe ich) den Frühling schon seit sehr langer Zeit nicht mehr wahrgenommen.
Das Entenpaar beschwamm heute unseren winzigen Teich. Wir waren erfreut, fühlten uns ein wenig geehrt und beobachteten sie zu dritt, Schulter an Schulter stehend hinter Glas in unserem Wohnzimmer.
Und weil die Frage kam: Die Nachtigall wechselt den Ort ihres Gesangs jede Nacht. Einmal direkt bei uns, dann wieder in einiger Entfernung. Immer hörbar, manchmal laut und dominant, dann wieder leise, als Beimengung zu den anderen Geräuschen der Nacht – dem Rauschen der Züge der Nordwestbahn, vereinzelten Autos, dem Rascheln des Igels, der seine Runden dreht.



